In diesem Beitrag: Okunoin – Der Weg zum Mausoleum von Kōbō Daishi
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Am Abend unserer Ankunft in Kōyasan im Sommer 2015 führte uns der Mönch Nobo zum außergewöhnlichen Friedhof Okunoin, dem spirituellen Zentrum des Berges.
Hier finden Menschen unterschiedlichster Religionen ihre letzte Ruhestätte – ein Ort, der keine Grenzen zieht, sondern den Gedanken universellen Mitgefühls sichtbar macht.
Mächtige Zedern flankieren den Eingang, ihre Kronen verschwinden in der Dunkelheit.
Wir folgen Nobos Beispiel und verbeugen uns beim Betreten – eine Geste des Respekts gegenüber den Seelen der Verstorbenen.
Der Weg ist von quadratischen Steinlaternen gesäumt, deren warmes Licht sich im feuchten Boden spiegelt.
In dieser Mischung aus Dämmerung und Schweigen entfaltet sich eine stille, fast zeitlose Atmosphäre.
Ein Friedhof für alle
Während wir dem Pfad folgen, erzählt Nobo von den Menschen, die hier ruhen:
von Samurai, von Mönchen, von einfachen Familien – und auch vom Gründer von Panasonic, dessen Grab sich unauffällig zwischen den alten Steinmonumenten befindet.
„Der Ort unterscheidet nicht“, sagt Nobo, „hier ist jeder willkommen, der sein Zungenbein bestatten lassen möchte.“
Eine Anspielung auf die besondere Zeremonie, mit der symbolisch das Organ des Sprechens, also des Geistes, dem Buddha anvertraut wird.
Als wir ihn fragen, wie sich die verschiedenen Religionen in Japan auf diesem Friedhof vertragen, lächelt er verschmitzt:
„Viele Japaner sind im Herzen Shintōisten.
Wenn sie heiraten, übernehmen sie die Gebräuche des Christentums.
Und wenn sie älter werden – dann bietet ihnen der Buddhismus die nötige Hilfe auf dem letzten Abschnitt des Lebenswegs.“
Ein Satz, der so einfach wie weise klingt – und das synkretistische Herz der japanischen Spiritualität offenbart.
Von Geistern, Quellen und Prüfungen
Nobo zeigt uns die vielen Jizō-Figuren, kleine steinerne Gestalten mit roten Lätzchen und Mützchen, die über Kinder, Reisende und Verstorbene wachen.
Im Licht unserer Laterne wirken sie fast lebendig – freundlich, still, geduldig.
Am nächsten Tag kehren wir bei Tageslicht zurück.
Nun sehen wir auch die Orte, die – so heißt es – den Zugang zur „anderen Seite“ eröffnen:
Eine brusthohe Steinsäule, auf deren Spitze man das Ohr legt, um die Stimmen der Geister tief aus der Erde zu hören.
Den Sugatami-no-Ido, einen Spiegelbrunnen, der, so sagt man, den Tod innerhalb von drei Jahren voraussagt – sieht man darin nicht sein Spiegelbild.
Und einen großen heiligen Stein hinter einem Holzgitter: Wer hindurchgreift und den Stein bewegen kann, so heißt es, dem ist Glück beschieden auf seinen künftigen Wegen.
Manche dieser Geschichten klingen märchenhaft, andere tragen den ernsten Atem der Jahrhunderte.
Mizuko Jizō und die stillen Tafeln
Ein besonders berührender Ort liegt an einem kleinen Bach.
Dort stehen hunderte Holztafeln (itahō) im Wasser – Gedenkzeichen für ungeborene oder bei der Geburt verstorbene Kinder.
Zwischen ihnen kleine Windrädchen, Spielzeug, Bonbons, Figuren.
Die Luft ist schwer von Andacht.
Hier zeigt sich, wie tief Mitgefühl in den japanischen Buddhismus eingeschrieben ist – nicht als Lehre, sondern als gelebte Form der Erinnerung.
Das Mausoleum des Kōbō Daishi
Schließlich erreichen wir die Friedhofsgebäude, hinter denen sich der Eingang zum Mausoleum von Kōbō Daishi (Kūkai) befindet.
Wir freuen uns über ein neues Tuschesymbol, das wir hier in unser Heiliges Buch eintragen lassen, und verbeugen uns zwischen goldenen Lotusblüten vor dem Heiligtum.
Das Tor zum Mausoleum liegt in einiger Entfernung – betreten darf es nur der oberste Mönch dieses Areals, denn hier, so glauben die Gläubigen, ruht Kūkai seit über tausend Jahren in tiefer Meditation.
Er gilt nicht als tot, sondern als derjenige, der weiterhin für das Heil aller Wesen meditiert.
Etwas weiter gelangen wir zum Haus der Lichter, einem Raum, in dem Hunderte goldene Lampen brennen.
Ihr warmes, sanft flackerndes Licht füllt die Halle wie eine stille Welle – ein betörender Abschluss unseres Weges durch Okunoin, diesen einzigartigen Ort zwischen den Welten.
Nachklang
Okunoin ist mehr als ein Friedhof.
Er ist ein Spiegel japanischer Spiritualität – offen, durchlässig, voller Achtung vor der Vielfalt der Wege, die zum Erwachen führen.
Und vielleicht liegt sein tiefster Frieden darin, dass er uns lehrt, wie nah Leben und Tod beieinanderliegen – und dass zwischen ihnen nichts liegt als Stille.