In diesem Beitrag: Kōyasan – Das Herz des japanischen Esoterischen Buddhismus
- Anmelden oder Registrieren, um Kommentare verfassen zu können
- 38 Aufrufe
Der Buddhismus in Japan hat einen besonderen Ort: Kōyasan.
Er gilt als das Herz des japanischen esoterischen Buddhismus – ein symbolischer Mikrokosmos des Universums, Gründungsort der Shingon-Schule und spirituelle Heimat von Kūkai, auch Kōbō Daishi genannt, der dort in ewiger Meditation verweilen soll.
Kōyasan wurde im frühen 9. Jahrhundert von Kūkai auf dem abgelegenen Hochplateau des Berges Kōya gegründet. Der zentrale Tempel, Kongōbu-ji („Tempel des Diamantgipfels“), ist bis heute Sitz der Shingon-Schule. Viele Geschichten ranken sich um diesen Ort, den Kūkai als Möglichkeit begriff, die Buddha-Natur in der Welt – und nicht erst im Jenseits – zu erfahren.
So gilt dieser Mönch auch nicht als verstorben, sondern als in ewiger Meditation befindlich. Zutritt zu seinem Okunoin, seiner Grabstätte, hat nur der jeweilige oberste Mönch. Der Okunoin-Friedhof zählt zu den größten und eindrucksvollsten Japans, mit über 200 000 Gräbern von Mönchen, Samurai und Kaisern.
Ein spirituelles Zentrum bis heute
Kōyasan ist auch heute ein lebendiger, spiritueller Ort.
Etwa 120 Tempel bilden das Klosterplateau; viele bieten Shukubō – einfache, aber gastfreundliche Übernachtungen für Laien – an, inklusive morgendlicher Meditation und vegetarischer shōjin ryōri. Der Ort gilt als Tor zwischen Diesseits und Jenseits, als eine Art metaphysischer Übergangspunkt, an dem Gläubige die Einheit von Körper, Geist und Universum erfahren können.
Kōyasan ist zugleich das Endziel des 88-Tempel-Pilgerwegs auf Shikoku, der ebenfalls eng mit Kūkai verbunden ist.
Jährlich pilgern Tausende Menschen in weißen Gewändern hierher – Gewänder, die am Anfang ihrer Reise rein und unbeschrieben sind.
Nach der langen Pilgerfahrt, in deren Verlauf die Gläubigen an jedem der 88 Klöster Symbole und Stempel sammeln, sind diese Gewänder bunt gezeichnet von den Spuren der spirituellen Reise.
Am Ende steht Kōyasan: das Ziel und die Vollendung, der Ort, an dem der Pilger dem Geist Kūkai begegnet.
Wir trugen zwar keine Pilgergewänder, doch hatten wir auf Shikoku mehrere Tempel besucht und in unserem eigens dafür erworbenen „Heiligen Buch“ die Stempel und Siegel dieser Klöster gesammelt – ein stilles Echo auf die Reise der weißen Pilger.
Wie diese machten auch wir uns schließlich auf den Weg zum heiligsten Ort – hinauf nach Kōyasan.
Unsere Anreise ins Herz der Berge
(Auszug aus Karins Reisetagebuch, 15. Juni 2015):
6:00 Uhr Aufstehen, 6:30 Frühstück, 7:00 Taxi zum Bahnhof,
7:40 Fahrt nach Takamatsu, 10:10 mit dem Marine Liner 22 nach Okayama,
11:03 mit dem Sakura 544 nach Shin-Osaka, 13:28 weiter mit der Tokaido-Sanyō-Line nach Osaka,
13:43 mit der Osaka-Kanjyō-Line nach Shin-Imamiya, 14:02 mit der Nankai Railway nach Gokurakubashi („Goldene Brücke“),
und schließlich mit der Zahnradbahn hinauf nach Kōyasan – und von dort mit dem Bus zum Ekōin-Tempel.
Uff – hat alles geklappt :-)
Im Ekōin-Tempel wurden wir herzlich von Nobo, einem der Mönche, empfangen.
Er führte uns in ein wunderschönes Zimmer mit Blick in den Garten, wo wir uns zunächst ausruhen konnten.
Die folgenden Tage verbrachten wir in stiller Gelassenheit: köstliche vegetarische Gerichte, morgendliche Feuerzeremonien, Meditation am frühen Morgen.
Wir nahmen an Klosterexkursionen teil, besuchten den Okunoin-Friedhof mit dem Mausoleum von Kūkai und spürten zunehmend die stille, eindringliche Spiritualität dieses Ortes. Ein besonderer Höhepunkt unseres Aufenthalts im Ekōin war die morgendliche Feuerzeremonie (Goma Hōyō). In der stillen Tempelhalle entzündeten die Mönche das rituelle Feuer, dessen Flammen im Rhythmus der Sutren hoch aufloderten. Die Hitze, der Klang der Trommel und der Duft von Räucherwerk verwandelten den Raum in ein Tor zwischen den Welten – Reinigung, Energie und tiefe Stille zugleich. In diesem Moment wurde spürbar, warum Kōyasan als Ort gilt, an dem sich die sichtbare und unsichtbare Welt berühren. (Ein Video dieser Zeremonie ist am Ende des Beitrags zu sehen.)
Wenn während der rituellen Flammen jemand im lodernden Feuer den Drachen (Ryū) erblickt, gilt das als Zeichen spiritueller Durchdringung – eine Art unmittelbare Offenbarung der Buddha-Weisheit in Form einer Vision.
Die Legende von Kūkai und der Vajra
Um Kōyasan rankt sich eine Legende, die erzählt, wie Kūkai diesen Ort fand:
Als junger Mann reiste er in die Tang-Dynastie nach China, um den esoterischen Buddhismus (Mikkyō 密教) zu studieren.
Vor seiner Rückkehr nach Japan warf er eine Vajra (金剛杵, kongōsho) – eine kleine rituelle Donnerkeule – in Richtung Osten und sprach:
„Möge diese Vajra dorthin fallen, wo ich den Ort finde, um die Lehre des wahren Wortes (Shingon) zu verbreiten.“
Nach seiner Rückkehr im Jahr 806 n. Chr. suchte Kūkai diesen Ort.
Er wanderte durch Japan, meditierte in Höhlen auf Shikoku und hörte schließlich von einem abgelegenen Plateau in der Provinz Kii – umgeben von acht Gipfeln, die wie die Blätter einer Lotusblüte geformt waren.
Als er sich dem Gebirge näherte, begegnete ihm ein mysteriöser Jäger mit zwei Hunden – einem weißen und einem schwarzen. Der Jäger führte ihn durch die Wälder bis zu einer Lichtung auf 800 Metern Höhe.
Dort erkannte Kūkai in der Landschaft das Mandala des Universums, die Form des Lotus mit acht Blütenblättern, wie sie den kosmischen Buddha Dainichi Nyorai (Mahāvairocana) umgibt.
Er begann zu meditieren – und fand in einem Baum die Vajra, die er Jahre zuvor in China in den Himmel geworfen hatte.
Unversehrt steckte sie dort in einem Ast.
Kūkai nahm dies als Zeichen des Kosmos: Hier war der Ort, den das Universum für ihn bestimmt hatte.
Er nannte den Ort Kōyasan (高野山) – den „Berg der hohen Wildnis“.
Dort gründete er 816 n. Chr. den Tempel Kongōbu-ji, und die acht umliegenden Gipfel symbolisieren seither die acht Blütenblätter des Lotusmandalas – das Zentrum des universellen Erwachens.
Symbolik und Bedeutung
Die Vajra steht für unerschütterliche Erkenntnis.
Der Lotusberg für die reinigende Welt des Erwachens.
Die schwarzen und weißen Hunde verkörpern Yin und Yang – Dualität, die in der Einheit aufgehoben wird.
Der Jäger gilt als Inkarnation der Schutzgottheit Kariba Myōjin, die Kūkai den Weg wies.
Im inneren Sinn ist die Legende eine Allegorie:
Die Vajra – die geistige Einsicht – wird in die Welt geworfen, und wenn sie zurückkehrt, zeigt sie uns, wo unser eigener „heiliger Berg“ liegt: der Ort, an dem Erkenntnis und Welt zur Einheit finden.
Nachklang
Kōyasan ist ein Ort, an dem sich Geschichte, Legende und Gegenwart auf einzigartige Weise durchdringen.
Wer dort verweilt, spürt, dass dieser Berg nicht nur ein geographischer, sondern ein innerer Ort ist – eine topographische Meditation über das Erwachen.
Vielleicht ist das das wahre Geheimnis von Kūkai: dass er uns gelehrt hat, dass der heilige Berg nicht außerhalb, sondern in uns selbst liegt.